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Bei Philaes Landung im November kommt es auch auf sein Triebwerk an. Es stammt von der Firma Realtechnologie AG bei Zürich.
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Mit Stickstoff zur Kometenlandung

19/08/2014 2613 views 23 likes
ESA / Space in Member States / Germany

Wie funktioniert der Antrieb von Rosettas Landegerät Philae? Und was hat die Kometenlandung mit dem Raumfahrtfilm Gravity zu tun? Ein Besuch im Städtchen Oberrieden am Zürichsee kann Antworten geben.

Wer die S-Bahn von Zürich nimmt, stößt elf Kilometer südöstlich der Metropole auf Oberrieden. Fachwerk, spätbarocke Kirche, weiße Ausflugsschiffe auf dem See – kaum jemand dürfte in der Gemeinde mit ihren 5000 Einwohnern einen Ausstatter von Raumschiffen vermuten. Und doch kommen von hier Bauteile, die für viele Raumfahrtprojekte unerlässlich sind. Im November, wenn Rosettas Landefähre Philae sich anschickt, weich auf der Oberfläche des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko aufzusetzen, wird einem Bauteil Philaes besondere Bedeutung zukommen: seinem Triebwerk, einem sogenannten Kaltgas-Schubantrieb. Entwickelt und gebaut wurde er von der Oberriedener Firma Realtechnologie AG.

Komet Wirtanen unerreichbar

Rudolf Bleuler
Rudolf Bleuler

Der Ingenieur Rudolf Bleuler leitet das Unternehmen. Der 55-jährige Maschinenbauer ist seit vielen Jahren in der Branche tätig, das Kerngeschäft sind weltraumtaugliche Kühlsysteme. Im Jahr 1998 bekam er vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) den Auftrag, Philaes Motor zu bauen, zuvor war ein italienischer Technologiekonzern von der Aufgabe zurückgetreten. Bleuler übernahm und lieferte pünktlich zwei Jahre später. Ursprünglich war als Zielkomet für Europas ehrgeizige Kometensonde 46P/Wirtanen vorgesehen, erzählt Bleuler. „Der kleine Kometenkern von Wirtanen hat eine solch geringe Schwerkraft, dass die Befürchtung war, er würde Philae zu schwach an sich ziehen, sodass eine Landung deshalb misslingen könnte.“ Ein Triebwerk sollte den Lander deshalb nach der Abtrennung vom Orbiter zur Oberfläche von Wirtanens Kometenkern steuern.

 

Es kam jedoch anders: Wegen Verzögerungen mit der Ariane-Startrakete war Wirtanen den Missionsplanern davongeflogen, schnell musste Ersatz her. Die Experten der ESA suchten einen neuen Zielkometen, der sowohl für Rosetta erreichbar war, als auch wissenschaftlich hinreichend interessant. Anfang März 2003, elf Monate vor dem Start, machte die BBC schließlich dessen zungenbrecherischen Namen bekannt.

Doch der Kern des Ersatzkometen ist schwerer als derjenige von Wirtanen, beschreibt Bleuler die damals neue Lage. „Er zieht den Lander folglich auch stärker an. Nun kam zwischenzeitlich die Frage auf, ob das Triebwerk auch als Bremstriebwerk fungieren könne.“ Ausgeschlossen, denn die Kaltgasdüse ist an der Oberseite des Landers fest montiert und zeigt für ein solches Manöver in die falsche Richtung. Sie kann Philae folglich nur in Richtung der Oberfläche des Kometenkerns beschleunigen.

Wie Sandra Bullock in Gravity

Das torusförmige Bauteil im Vordergrund ist der Tank von Philaes Antrieb, er soll den Lander nach dem Bodenkontakt fest an die Oberfläche drücken.
Das torusförmige Bauteil im Vordergrund ist der Tank von Philaes Antrieb, er soll den Lander nach dem Bodenkontakt fest an die Oberfläche drücken.

Wieso eigentlich Kaltgas? Herkömmliche chemische Raketentriebwerke verwenden einen brennbaren Treibstoff, der gezündet wird. Das erzeugt eine Menge Hitze und Verbrennungsgase, die in der Düse ausgestoßen werden. Die Bewegungsenergie dieser Gase bewirkt den Schub. Bei Philaes Düse ist das anders, da brennt nichts. „Unser Triebwerk erzeugt den Schub, durch den Rückstoß, der entsteht, wenn Stickstoff ins Vakuum des Weltalls ausströmt“, erläutert Bleuler. Das unbrennbare Gas befindet sich in einem torusförmigen Tank mit rund drei Litern Volumen, bei 65 bar Druck und minus13 Grad Celsius. Das Prinzip erinnert an die Hollywood-Astronautin Ryan Stone, alias Sandra Bullock, im Film „Gravity“ (2013). Als sie nach einer Havarie im Raumanzug zwischen den Trümmern ihres Raumschiffs schwebt, muss sie die Distanz zur rettenden Raumstation überwinden. Kurzerhand greift sie zu einem Feuerlöscher. Dessen ins All ausgestoßenes Löschmittel, quasi eine aus der Not geborene Kaltgasdüse, gibt den nötigen Schub und rettet Stone aus ihrer prekären Lage. Zurück nach Oberrieden. Technische Pioniertaten gab es hier natürlich schon früher. 1920 eröffnete Luftfahrtpionier Alfred Comte (1895 - 1965) am Ufer des Zürichsee seine Firma. Mit sechs Flugboten führte er Passagierflüge durch und bildete auch Piloten aus. Später expandierte er Richtung Flugzeugbau, die erste Maschine der Swissair stammt von hier. Sie war wegen ihrer gutmütigen Flugeigenschaften bekannt, die einmotorige Comte AC-4 „Gentleman“.

Ob Philaes Flug auch so gutmütig verläuft, werden wir am 11. November, dem geplanten Landetermin, wissen. Im neuen Landeszenario hat sein Motor vor allem die Aufgabe, das Landegerät gegen die Oberfläche des Kometenkerns zu drücken, wenn der erste Bodenkontakt hergestellt ist; einen Schub von 17 Newton kann der Antrieb dafür maximal erzeugen. Bei diesem Erstkontakt schießen zwei Harpunen in den Boden, ebenso bohren sich Schrauben an allen drei Landefüßen nach unten – der Lander soll so fest wie möglich auf der Oberfläche verankert werden. Wie fühlt es sich an, wenn ein Bauteil aus der eigenen Firma bei einer raumfahrttechnischen Pioniertat eingesetzt wird? Bleuler: „Es ist in erster Linie ein Nervenkitzel. Wir hoffen, dass alles wie geplant funktioniert.“

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