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ISS überwacht weltweiten Schiffsverkehr

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Lässt sich der Schiffsverkehr auf den Weltmeeren von der Internationalen Raumstation auf ihrer Umlaufbahn Hunderte von Kilometern über der Erde aus beobachten? Seit Juni 2010 führt die Europäische Weltraumorganisation ESA in ihrem Columbus-Modul eine entsprechende Machbarkeitsstudie durch.

Das getestete Schiffsidentifikationssystem basiert auf dem automatischen Identifikationssystem AIS (Automatic Identification System), dem maritimen Gegenstück zur Flugsicherung im Luftverkehr.

Alle Schiffe auf internationaler Fahrt, sowohl Frachtschiffe ab einer bestimmten Größe als auch Passagierschiffe jeder Größe müssen mit einem AIS-Transponder der Klasse A ausgestattet sein, der kontinuierlich aktuelle Daten – wie Identität, Position, Kurs, Geschwindigkeit, Ladung und sonstige Angaben zu Schiff und Fahrt – an andere Schiffe sowie an Küstenstationen sendet und entsprechende Daten empfängt.

Mithilfe des AIS können Hafenbehörden und Küstenwachen den Schiffsverkehr auf den Meeren beobachten und kontrollieren. Allerdings arbeitet das System mit Ultrakurzwellensignalen (VHF-Signalen), deren horizontale Reichweite auf nur 40 Seemeilen (74 km) beschränkt ist. Daher kann das System zwar in Küstengewässern und für die Kommunikation von Schiff zu Schiff eingesetzt werden, nicht jedoch zur Überwachung des Schiffsverkehrs auf dem offenen Meer. Dort war eine Nachverfolgung einzelner Schiffe bislang nicht möglich. In vertikaler Richtung ist die Reichweite der AIS-Signale jedoch erheblich größer. Sie können sogar von der ISS auf ihrer Erdumlaufbahn empfangen werden, so dass sich diese als ideale Plattform zur Überwachung des weltweiten Schiffsverkehrs vom Weltraum aus geradezu anbietet.

Dieser Gedanke stand Pate für das COLAIS-Experiment (Columbus Automatic Identification System), ein „In Orbit Demonstration“-Projekt im Rahmen des GSTP-Technologieprogramms (General Support Technology Programme) der ESA, bei dessen Umsetzung die Astronauten eine entscheidende Rolle spielten. Denn das Columbus-Modul war ursprünglich nicht mit VHF-Antennen zum Empfang von AIS-Signalen ausgestattet. Diese mussten erst bei einem Außenbordeinsatz im November 2009 an der Außenseite des Moduls montiert werden. Dazu kamen ein Kontrollcomputer, die so genannte ERNOBox, und ein Empfänger mit der Bezeichnung NORAIS. Beides installierten die Astronauten im Mai 2010 im Columbus-Modul. Die ERNOBox, eine Entwicklung der Astrium GmbH, Deutschland, ist selbst ein „In Orbit Demonstration“-Projekt einer neuen Klasse von Weltraum-Computern. Astrium übernahm die gesamte Systemintegration und steuerte die ERNOBox sowie den GATOR (Grappling Adaptor) zur Befestigung der AIS-Antenne am Columbus-Modul bei. Die Antennen wurde von AMSAT gebaut.

Den weltweiten Schiffsverkehr auf den Meeren im Blick

Von der Internationalen Raumstation aus lässt sich mit AIS ein Bereich von etwa 68° nördlicher bis 68° südlicher Breite abdecken. AIS besteht aus zwei Antennenbaugruppen, die bei einem Außenbordeinsatz im November 2009 außen am Columbus-Modul angebracht wurden, sowie einem Computer zur Datenübermittlung (ERNOBox) und einem Empfänger (NORAIS) im Columbus-Modul. Die beiden bisherigen Betriebsphasen mit dem NORAIS-Empfänger, bereitgestellt und betrieben vom FFI (Forschungsinstitut des norwegischen Militärs), waren ein großer Erfolg. Die eingehenden Telemetriedaten wurden über das Columbus-Kontrollzentrum der ESA an das N-USOC (Norwegian User Support and Operation Center) in Trondheim, Norwegen, übermittelt. NORAIS empfing praktisch kontinuierlich Daten und funktionierte in allen Betriebsmodi außerordentlich gut. Unter anderem verfügt der NORAIS-Empfänger über einen Testmodus, in dem er Rohdaten empfängt, digitalisiert und zur Erde sendet, wo die Signalqualität analysiert wird. Anhand dieser Analysen wird das System weiter verbessert und optimiert, damit es künftig auch in stark befahrenen Gewässern eingesetzt werden kann, wo die Signale einander überlagern oder nicht ankommen.

Bei diesen Tests untersucht man die Signalumgebung und bewertet die Leistungsfähigkeit neuartiger Empfängertechnologien auf der Erde. Mehrere Hundert Datensätze wurde bereits gesammelt und mit neuen potenziellen Algorithmen für die nächste Empfängergeneration verarbeitet.

Die Analyseergebnisse sind außerordentlich vielversprechend. An guten Tagen gehen etwa 400.000 Positionsmeldungen von über 22.000 Schiffen mit unterschiedlichen MMSI-Nummern (Maritime Mobile Service Identity) ein. Laut einer zusammenfassenden Auswertung aus dem Oktober 2011 lagen bis dahin bereits mehr als 110 Millionen Meldungen von über 82.000 unterschiedlichen Schiffen vor.

Zusätzlich zu den ursprünglichen technischen Fragestellungen wurden auch operative Experimente in das Projekt mit aufgenommen. Beispielsweise sehen die Anforderungen des SAT-AIS-Projekts, definiert von der ESA in Zusammenarbeit mit den tatsächlichen Nutzern, eine Datenübertragung in nahezu Echtzeit vor. Nach einem Upgrade der erdgebundenen Systeme im N-USOC belegen die Fast-Echtzeit-Daten aus 10 Tagen, dass 80 Prozent der Empfangsdaten mit einer Latenz von deutlich unter 1 Stunde über das Kommunikationsnetzwerk der ISS zugestellt werden konnten. Seit November 2011 ist die Datenübertragung in nahezu Echtzeit bereits Routine.

Zurzeit wird eine neue Version des Decodieralgorithmus erprobt, entwickelt von Kongsberg Seatex im Rahmen eines Technologieentwicklungsvertrags mit der ESA. Bei der Entwicklung des Algorithmus konnte sich Kongsberg Seatex auf die Analysen der Testdaten sowie auf laufende Arbeiten an anderen ESA-Projekten stützen. Im Januar 2011 wurde die Firmware über das Kommunikationsnetzwerk der ISS zum NORAIS-Empfänger hochgeladen, verifiziert und aktiviert. Wie die vorläufigen Ergebnisse zeigen, stieg die Leistung bei der Decodierung von Meldungen aus stark befahrenen Gewässern, für die die ESA eine leistungsstärkere Überwachung gefordert hatte, um den Faktor 1,5 bis 2,0.

Die Arbeit an der Verbesserung der Algorithmen geht weiter. Für Mai 2012 ist ein zweites Ugrade des NORAIS-Empfänger geplant. Die Ergebnisse der Entwicklungsarbeiten sollen in die Konzeption und Entwicklung eines weltraumgestützten AIS-Systems und in die Leistungsoptimierung des AIS-Empfängers auf der ISS einfließen.

Außerdem ließe sich die Überwachung des Schiffsverkehrs durch Integration der AIS-Daten mit anderen Satellitendaten, beispielsweise von Fernerkundungssatelliten, erheblich verbessern, was der Sicherheit auf hoher See sehr zugute käme. Eine Nutzlast für den norwegischen Satelliten AISSat-1, der im Juli 2010 in eine polnahe Umlaufbahn gebracht wurde, liefert bereits Daten von vergleichbar guter Qualität für den hohen Norden. Der NORAIS-Empfänger arbeitet in einem Seefunkband von 156 bis 163 Megahertz. Das ist in seiner Software so festgelegt. Außerdem wurde der NORAIS-Empfänger bereits auf Frequenzen eingestellt, die für ein weltraumgestütztes AIS-System infrage kommen, und im Oktober 2010 fanden unter der Leitung der Küstenwache der USA bereits internationale Tests der beiden vorgeschlagenen Frequenzen statt.

Mit den Tests von mehr als den beiden aktuellen AIS-Frequenzen soll in erster Linie der praktische Nutzen neuer Seefunkkanäle für das weltraumgestützte AIS-System belegt werden. Darüber hinaus kann das gesamte Kanalspektrum im VHF-Seefunkband bei dieser Konfiguration hinsichtlich Nutzungsintensität und Interferenzen charakterisiert werden. Die Softwareimplementierung ermöglicht die Optimierung der Empfängereinstellungen im Weltraum sowie das Hochladen neuer Signalverarbeitungsalgorithmen.

Das Schiffsidentifikationssystem VIS (Vessel Identification System) dürfte vielen europäischen Stellen große Vorteile bringen, insbesondere bei der Strafverfolgung, bei Kampagnen zur Fischereikontrolle, bei der Kontrolle von Seegrenzen sowie bei Belangen der maritimen Sicherheit, was Erhebungen zur Verschmutzung der Meere, Such- und Rettungseinsätze sowie den Kampf gegen die Piraterie umfasst. Mehrere Dienstleister haben bereits um Zugriff auf die VIS-Daten ersucht, die kontinuierlich im Columbus-Modul gesammelt werden.

European Space Agency

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