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Science & Exploration

Moderne Ultraschalltechnologie für Weltraum und Erde

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Der Aufenthaltsort eines Menschen zum Zeitpunkt einer gesundheitlichen Krise bestimmt in vielen Fällen mit über das Ausmaß an Schmerzen und Leiden, die er erdulden muss, ja sogar über seine Überlebenschancen. Generell ist der Zugang zu medizinischer Versorgung umso schwieriger, je weiter entfernt von einer modernen Großstadt man sich befindet. Eine besondere Herausforderung ist natürlich die medizinische Versorgung von Menschen in abgelegenen Gebieten, auf weit entfernten Stützpunkten wie zum Beispiel Forschungsstationen in der Antarktis und eben auf der Internationalen Raumstation. Normalerweise liegt die medizinische Versorgung an abgelegenen Orten in den Händen von Personal mit nur geringen medizinischen Kenntnissen, und ärztliche Hilfe steht – wenn überhaupt – nur telefonisch oder über eine Internet-Verbindung zur Verfügung. Andererseits lassen sich die Folgen einer Erkrankung oder Verletzung für den Patienten selbst und darüber hinaus für die gesamte restliche Mission durch eine schnelle, präzise Diagnose und eine schnell einsetzende Behandlung mildern. Außerdem kann eine solche Diagnose Patienten an schwer erreichbaren Standorten unter Umständen eine teure, vielleicht sogar gefährliche Evakuierung ersparen, die sich im Nachhinein womöglich als gar nicht erforderlich erweist.

Ultraschall gehört zu den schnellsten, sichersten und vielseitigsten Diagnoseverfahren überhaupt. Er liefert einen großen Teil der Informationen, die sonst mithilfe sehr kostenintensiver Technologien gewonnen werden, beispielsweise Röntgenaufnahmen, Computertomographie oder Magnetresonanztomographie. Außerdem ist Ultraschall das einzige bildgebende Verfahren, mit dem man Aufnahmen live, also in Echtzeit, erzeugen, sofort interpretieren und anderswohin versenden kann. Richtig angewendet, lassen sich zahlreiche klinische Fragen durch Ultraschallaufnahmen unverzüglich beantworten, was die Zeit bis zur Diagnosestellung verkürzt und damit die Situation für den Patienten verbessert.

Das ADUM-Team (ADUM – Advanced Diagnostic Ultrasound in Microgravity), ein Forscherteam der NASA aus dem Johnson Space Center, testet neuartige Anwendungsmöglichkeiten von Ultraschall in großen medizinischen Einrichtungen und unter Laborbedingungen und passt diese dann an die Gegebenheiten auf Weltraumflügen an. Dazu konzipiert es Schulungen und Anweisungen für Bedienpersonal ohne medizinische Ausbildung. Die Mitglieder des ADUM-Teams können mit besonderen klinischen, wissenschaftlichen, technischen und didaktischen Fähigkeiten aufwarten und kennen zahlreiche telemedizinische Projekte und Programme aus eigener Erfahrung.

Tests auf der Erde: neue Anwendungsmöglichkeiten für Ultraschall

Heutzutage wird Ultraschall routinemäßig in der Schwangerschaft sowie zur Diagnose diverser Erkrankungen des Bauchraums und der Gefäße eingesetzt, beispielsweise bei Problemen mit der Gallenblase oder bei Blutgerinnseln. Wir haben den Nutzwert von Ultraschalluntersuchungen bei zahlreichen weiteren medizinischen Problemen geprüft, darunter Lungenkollaps, Knochenbrüche, Augen- und Kopfverletzungen sowie Infektionen des Gebisses oder der Nebenhöhlen.

Patienten mit Brustverletzungen sind in Gefahr, einen Lungenkollaps (Pneumothorax) zu erleiden, der normalerweise durch Röntgenaufnahmen des Brustraums diagnostiziert wird. Das ADUM-Team entwickelte eine einfache Ultraschalltechnik für die Lunge, mit der sich ein Pneumothorax sogar präziser diagnostizieren lässt als mit einer Röntgenaufnahme. Die neue Technik ist in vielen Krankenhäusern und Traumazentren weltweit inzwischen Standard. Auf Parabolflügen mit simulierter Schwerelosigkeit wurden das Ultraschallgerät sowie die Fernsteuerverfahren und die Anweisungen für das Bedienpersonal getestet, und das gesamte Verfahren wurde auf seine Eignung für die medizinische Betreuung künftiger Weltraummissionen hin geprüft.

Das ADUM-Team entwickelte Anweisungskarten als Schnellanleitung für medizinische Laien bei der Ultraschalluntersuchung von Knochenverletzungen der Extremitäten. Es zeigte sich, dass diese Laien Knochenverletzungen nach nur wenigen Minuten Training mit über 90-prozentiger Genauigkeit diagnostizieren konnten. Auch Verletzungen an Muskeln, Gelenken und Sehnen lassen sich mit Ultraschall diagnostizieren. Darüber hinaus erlaubt Ultraschall die Darstellung von Muskeln und Gelenken in Bewegung und ist damit Röntgenaufnahmen oder anderen Techniken überlegen, die nur Bilder des Körpers in Ruhe zeigen können.

Für Astronauten besteht die Gefahr von Augenverletzungen durch Gegenstände, die in der Schwerelosigkeit eines Raumfahrzeugs umherfliegen. In letzter Zeit sind darüber hinaus Bedenken aufgekommen, längerfristige Aufenthalte in der Schwerelosigkeit könnten die Sehkraft schädigen. Mit Ultraschall lassen sich Fremdkörper im Auge und andere Probleme erkennen, die das Augenlicht bei Weltraumaufenthalten möglicherweise bedrohen. Außerdem können Ultraschalluntersuchungen der Augen wichtigen Aufschluss über den Zustand von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma geben. Denn mithilfe von Ultraschall kann man die Größe des Nervs im Augenhintergrund ermitteln und auf diese Weise eine Hirnschwellung diagnostizieren.

Schnellschulungen für medizinische Laien

Bei einer Ultraschalluntersuchung wird eine Sonde über den Körper des Patienten bewegt. Diese sendet und empfängt Schallwellen, aus denen ein bewegtes Bild generiert wird. Die Qualität des Bildes hängt von der korrekten Platzierung und Bewegung der Sonde ab. Normalerweise erfordert die Technik Hunderte von Übungsstunden. Die Forscher im ADUM-Team fanden jedoch heraus, dass auch medizinische Laien Ultraschalldaten von guter Qualität erzielen können, wenn ein ferner Experte (also ein Experte an einem anderen Standort) ihnen die richtigen klinischen Fragen stellt und ihnen die richtigen Informationen und Anweisungen gibt.

Das ADUM-Team entwickelte ein zweisprachiges (Englisch und Russisch), computerbasiertes eLearning-Programm namens OPE (On-Board Proficiency Enhancement) mit schrittweisen Erläuterungen zu bestimmten Ultraschalluntersuchungen. Voraussetzung ist lediglich ein kurzes, praktisches Trainingsprogramm vor dem Flug. OPE enthält Module zum Einrichten des Ultraschallgeräts, zu grundlegenden und komplexeren Prinzipien des Ultraschalls, zur Anatomie, zu den Anweisungen durch ferne Experten sowie Prüfungsvorschläge mit einer Referenzsammlung von Ultraschallaufnahmen. Für alle Ultraschalluntersuchungen wurden Anweisungskarten entwickelt, die zeigen, wo die Sonde platziert werden muss, damit man brauchbare Aufnahmen erhält. Das Trainingsprogramm kann in zwei bis drei Stunden absolviert werden und beinhaltet 30-minütige Auffrischungsmodule zum Durcharbeiten unmittelbar vor einer Untersuchung. Das vom ADUM-Team entwickelte Kernstück des Verfahrens ist die Anleitung durch ferne Experten, also durch Experten an einem anderen Standort. Bei einer Ultraschalluntersuchung arbeiten der ferne Experte und der medizinische Laie als Bediener vor Ort in einer virtuellen, gemeinsamen Arbeitsumgebung zusammen. Das vom Ultraschallgerät generierte Videobild wird über Satellit oder Internet an den fernen Experten übermittelt, der den Bediener über gesprochene Anweisungen leitet. Bei dieser Technik lassen sich die Trainingsanforderungen erheblich herunterschrauben (oftmals bis auf wenige Minuten), ohne dass die Qualität der Ultraschalluntersuchungen leidet.

Ultraschall auf der ISS

Die ersten Testläufe des neuen Konzepts mit Ultraschallaufnahmen von Herz und Bauchraum ebneten den Weg zu einer umfangreichen Serie von ADUM-Experimenten an Bord der ISS, gesponsert von der NASA und dem NSBRI (National Space Biomedical Research Institute). Dabei stellte das ADUM-Team die grundlegenden Merkmale des Konzepts in den Mittelpunkt: nur ein Minimum an Trainingsaufwand für die Astronauten und Kosmonauten vor dem Flug, computerbasierte eLearning-Auffrischungsmodule zum Durcharbeiten unmittelbar vor einer Untersuchung und die Anleitung durch einen fernen Experten bei komplexen Ultraschalluntersuchungen auf der ISS.

Zunächst führten einige ISS-Besatzungsmitglieder Ultraschalluntersuchungen des Herzens, der Gefäße und des Thorax in der nötigen Qualität für eine Diagnosestellung durch. Dann erhielten andere Astronauten zusätzlich ein Schnelltraining für Untersuchungen von Herz, Lunge, Blutgefäßen und Bauchraum sowie insbesondere des Muskel- und Skelettsystems. Allmonatlich führten die Besatzungsmitglieder zur Langzeitüberwachung von Knochenveränderungen in der Schwerelosigkeit Ultraschalluntersuchungen der Knochen durch. Danach erweiterte das ADUM-Team in Zusammenarbeit mit den Astronauten das Spektrum an Untersuchungen auf Gebiss, Nebenhöhlen und Augen. Am Ende folgte eine komplette Untersuchung des Herzens ohne direkte Videoverbindung, lediglich mithilfe gesprochener Anweisungen und einer Mustererkennungstechnik, die im Zuge des Experiments entwickelt worden war.

Mehr als 100 Stunden an Ultraschalluntersuchungen wurden an Langzeitbesatzungsmitgliedern der ISS durchgeführt und ergaben ein vollständiges Bild der körperlichen Veränderungen auf Weltraumflügen – buchstäblich von Kopf bis Fuß. Ende 2009 wurden die vom ADUM-Team entwickelten Techniken und Lösungen zur medizinischen Versorgung auf der ISS sowie für weltraumphysiologische Experimente und die klinische weltraummedizinische Forschung offiziell anerkannt.

Anwendungsmöglichkeiten für die Erfahrungen aus den Ultraschallexperimenten

Das ADUM-Team modifizierte die für die ISS entwickelten Trainingsmethoden und Fernbetreuungstechniken zur Verbesserung der medizinischen Versorgung auf der Erde. Trainer der Hockey-Mannschaft Detroit Red Wings und der Baseball-Mannschaft Detroit Tigers erlernten differenzierte Ultraschalluntersuchungsmethoden, um verletzten Sportlern auch ohne ärztliche Ausbildung helfen zu können. Im Umkleideraum der Sportstadien wurde ein tragbares Ultraschallgerät aufgestellt und es wurden spezielle Anweisungskarten für häufige Sportverletzungen entwickelt. Für die Betreuung durch ferne Experten richtete man Tele-Ultraschallverbindungen zwischen den Sportstadien und dem Henry Ford Hospital in Detroit, Michigan (USA), ein.

Erste Versuche mit den Hockey- und Baseball-Mannschaften ergaben, dass die Trainer durchaus in der Lage waren, komplexe Ultraschalluntersuchungen von Muskeln, Knochen und Gelenken schnell und mit hoher diagnostischer Präzision durchzuführen, so dass die Verletzungen der Sportler direkt vor Ort diagnostiziert und versorgt werden konnten. Einige Mitglieder des ADUM-Teams passten das Konzept an die Anforderungen der Olympischen Trainingszentren in den USA an. Bei den Olympischen Spielen in Turin, Peking und Vancouver wurden bereits Hunderte von Sportlern mit Verdacht auf Verletzungen vor Ort mit Ultraschall untersucht.

Auch in schwer zugänglichen Gegenden wie dem Mount Everest oder dem Polarkreis kann das Verfahren inzwischen eingesetzt werden. Dazu entwickelte das ADUM-Team ein eigenständiges System, bestehend aus einem tragbaren Ultraschallgerät, Solarzellen, einer Satellitentelefonverbindung und einem Laptop mit den Schulungsprogrammen. Ein Bergsteiger führte im vorgeschobenen Basislager auf dem Mount Everest ohne vorherige Schulung, nur mithilfe von Anweisungskarten und der Anleitung eines fernen Experten, bei einem Bergkameraden eine komplette Ultraschalluntersuchung der Lunge durch. Der Neuling am Gerät schaffte es, Ultraschallaufnahmen in ausreichend hoher Qualität zu erzeugen, so dass der fernen Experte bei dem Patienten ein höhenbedingtes Lungenödem diagnostizieren konnte. Ein ähnliches System kam in der Resolute Bay am kanadischen Polarkreis zum Einsatz. Das heißt, mit dem neuen Verfahren können Bediener auch ohne ärztliche Ausbildung gezielte Ultraschalluntersuchungen fast aller Organsysteme durchführen.

Die für den Weltraum und andere schwer erreichbare Orte entwickelten Schnellschulungsprogramme für Ultraschalluntersuchungen erwiesen sich auch in der medizinischen Ausbildung als nützlich. Ein Trainingsprogramm, konzipiert von der Wayne State University School of Medicine, ist jetzt beim American College of Surgeons in Gebrauch und kommt bei der Ausbildung künftiger Chirurgen zum Einsatz.

Zukunftspläne

Zurzeit erarbeitet das ADUM-Team einen einfachen Schulungskatalog zu Ultraschalluntersuchungen des ganzen Körpers, der medizinische Laien bei der Diagnose unterschiedlichster medizinischer Probleme anleiten soll. Auch ein integriertes Telemedizinsystem ist in Arbeit. Dieses verbindet computerbasiertes Training, Ultraschalldiagnostik sowie die Kommunikation mit fernen Experten und soll eine hochwertige, medizinische Versorgung auch in abgelegenen, ländlichen, strukturschwachen oder unterentwickelten Regionen der Erde ermöglichen.

Ultraschall ist als Untersuchungstechnik für telemedizinische Anwendungen aus mehreren Gründen besonders attraktiv: Die Ultraschallaufnahmen entstehen in Echtzeit, sie lassen sich mühelos übertragen und ein ferner Experte kann einen medizinischen Laien anleiten. Gegenwärtig befasst sich das ADUM-Team mit der Möglichkeit, Ultraschall überall dort als effektives Mittel für eine primäre klinische Diagnostik einzusetzen, wo es als einzige (oder erste) Bildgebungstechnologie zur Verfügung steht oder nur wenige Fachleute zugegen sind. Das Team hat eine eLearning-Multimedia-Software entwickelt und bereits ausführlich getestet, die in Kombination mit der Betreuung bzw. Anleitung durch ferne Experten ein erstaunliches Potenzial entfaltet. Die neuen, gezielten Verfahren für Ultraschalluntersuchungen haben sich inzwischen nicht nur auf der ISS, sondern auch bei verschiedenen Anwendungen auf der Erde bewährt.

Ultraschall gehört zu den anpassungsfähigsten bildgebenden Diagnoseverfahren und eignet sich für zahlreiche chirurgische und sonstige medizinische Zwecke. Durch die Fortschritte in der Entwicklung tragbarer und bezahlbarer Systeme, gekoppelt mit ausgereiften Trainingsprogrammen und Tele-Ultraschall, lassen sich heute überall auf dem Planeten und darüber hinaus leistungsstarke Diagnosemöglichkeiten bereitstellen.

Zusammen mit seinen Partnern arbeitet das ADUM-Team weiter an der Entwicklung neuer Kenntnisse und Techniken, die der medizinischen Versorgung von Menschen auf der Erde, aber auch von Astronauten bei künftigen Forschungsmissionen in den Tiefen des Weltalls zugute kommen sollen.

  1. Nach einem Originalartikel aus NASA Technology Innovation, Band 15; 3, 2010; NP-2010-06-658-HQ.
  2. Scott Dulchavsky, M.D., ist Leiter der Chirurgie am Henry Ford Hospital in Detroit, Michigan (USA), und Forschungsleiter des ADUM-Projekts.
  3. Kathleen Garcia, Douglas Hamilton (M.D., Ph.D.), Shannon Melton und Ashot Sargsyan (M.D.) sind Mitarbeiter von Wyle Integrated Science and Engineering und Co-Investigatoren beim ADUM-Projekt. Wyle ist Hauptvertragspartner des NASA Johnson Space Center Bioastronautics Contract und beteiligt an medizinischen Projekten, Forschungsprojekten auf der Erde und im Weltraum, der Entwicklung und Herstellung von Systemen für Weltraumflüge sowie der wissenschaftlichen und der Missionsintegration.

Scott A. Dulchavsky, M.D.
Henry Ford Hospital
Kathleen Garcia; Douglas R. Hamilton, M.D., Ph.D.; Shannon Melton; and Ashot E. Sargsyan, M.D.
Wyle Integrated Science and Engineering

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