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Das europäische Forschungsmodul Columbus bietet Platz für zehn Kompaktlabore
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Muschelzellen im Dienst der Weltraummedizin

29/11/2005 656 views 0 likes
ESA / Space in Member States / Germany

Wissenschaftler der TU Berlin wollen in Kooperation mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA Muschelzellen ins All schicken, um an ihnen die Auswirkungen von Weltraumbedingungen auf das Immunsystem zu studieren.

Nach den Vorstellungen Berliner Wissenschaftler können Miesmuscheln und Austern helfen, bemannte Langzeitflüge zu anderen Himmelskörpern unseres Sonnensystems vorzubereiten.
An der TU Berlin arbeitet ein Team von Forschern um den Ökotoxikologen Peter-Diedrich Hansen an einem Experiment mit Muschelzellen, das 2007/08 im Biolab der ESA auf der Internationalen Raumstation ISS durchgeführt werden soll. Die Berliner wollen herausfinden, ob und wie sich die Immunreaktionen in Körperzellen unter Weltraumbedingungen verändern.

Zellexperimente: Gesund zum Mars

ESA-BioLab: Hightech-Labor in Kompaktbauweise
ESA-BioLab: Hightech-Labor in Kompaktbauweise

Zur Vorbereitung bemannter Langzeitflüge muss genauestens erkundet werden, wie das Immunsystem unter dem Einfluss von Schwerelosigkeit und ionisierender Strahlung funktioniert. Zeigt sich, dass die Körperabwehr unter diesen Bedingungen schwächelt oder gar zusammenbricht, dann müssten spezielle Medikamente zur Immunstärkung der Astronauten entwickelt und verabreicht werden. Denn eine von Immunkrankheiten geplagte Besatzung wäre den extremen Anforderungen einer Langzeitmission im All nicht gewachsen. Ein Flug zum Mars wäre allein schon unter diesen Bedingungen zum Scheitern verurteilt.

Das Experiment der TU Berlin ist Teil eines Projekts namens „TripleLux“, das noch zwei weitere Zellexperimente umfasst. Analog zu den Muschelzellen der Berliner schickt ein Forscherteam der TU München immunaktive Zellen vom Schaf ins All. Und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) steuert ein Experiment zur Untersuchung von DNA-Schäden an Escherichia-Colibakterien (abgekürzt E. coli) bei. Alle drei TripleLux-Experimente hat die ESA über ein Ausschreibungsverfahren ausgewählt.

Immunabwehr auf dem Prüfstand

Die Forscher gewinnen Immunzellen aus dem Blut lebender Muscheln
Die Forscher gewinnen Immunzellen aus dem Blut lebender Muscheln

Das Berliner Team um Peter-Diedrich Hansen hat eine Methode entwickelt, mit der sie einen zentralen Verteidigungsmechanismus der Immunabwehr, die so genannte Phagozytose, sehr genau beobachten und nachvollziehen kann.
Die Phagozytose ist gewissermaßen ein Verdauungsvorgang auf Zellebene: Spezielle Immunzellen machen Krankheitserreger oder abgestorbene körpereigene Zellen als Gegner aus und binden diese an ihrer Oberfläche, um sie schließlich zu verschlingen. Im Inneren der Immunzellen werden die Fremdkörper dann so lange von Enzymen in die Mangel genommen, bis sie zu ungefährlichen Zelltrümmern zerfallen sind. Damit ist der Gegner beseitigt, die Gefahr für den Körper gebannt.
„Die Beobachtung der Phagozytose ist wichtig, um Informationen über das Immunsystem des Astronauten bzw. über das Immunsystem generell zu erhalten“, erläutert Hansen. „Wir wollen vor allem Verlauf und Folgen der Phagozytose bei geringer Schwerkraft bzw. Schwerelosigkeit und unter Strahlungseinfluss untersuchen.“

Sylter Muscheln als Zelllieferanten

Ergiebiges Jagdrevier der Forscher: Muschel- und Austernbänke vor der Insel Sylt
Ergiebiges Jagdrevier der Forscher: Muschel- und Austernbänke vor der Insel Sylt

Bei Muscheln und Austern sind es die weißen Blutzellen (Hämozyten), die diese höchst wirksame Form körpereigener „Müllbeseitigung“ übernehmen. Die Forscher um Hansen gewinnen die Blutzellen für ihr Experiment, indem sie lebenden Miesmuscheln und Austern aus den Gewässern vor der Insel Sylt winzige Blutmengen abzapfen und diese für das Experiment aufbereiten.
„Wir haben uns für die Arbeit mit Muschelzellen entschieden, weil Muscheln auf sich verändernde Umwelteinflüsse sehr rasch mit verstärkter Bildung von Blutzellen reagieren“, erläutert Hansen. Außerdem lassen sich die Muschel-Blutzellen relativ problemlos gewinnen und sind unter Laborbedingungen relativ einfach zu halten. Neben der Phagozytose, also der Immunabwehr, soll bei dem Experiment der TU Berlin auch das Wachstum dieser Zellen und ihre Vermehrung im All beobachtet werden.

Europas Hightech-Biolabor im Orbit

Alle drei TripleLux-Experimente werden 2007/08 in normierten Experimentierboxen zur Internationalen Raumstation ISS geflogen, wo sie im Biolab der ESA ihren Platz finden werden. „Das Biolab ist in das Columbus-Modul der ESA integriert, mit dem die ISS erweitert wird“, so Enno Brinckmann, der für das Biolab zuständige ESA-Projektwissenschaftler. Ein Space-Shuttle soll Columbus und damit das Biolab 2007 zur ISS bringen, so die derzeitige Planung.
Das in ein standardisiertes Gerüst eingebaute, etwa kühlschrankgroße Biolab ist ein vollwertiges Forschungslabor im Miniaturformat. Die kompakte High-Tech-Anlage ist für biologische Experimente an Mikroorganismen, Zellen, Gewebekulturen sowie kleinen Pflanzen und Tieren ausgelegt. Zur Ausstattung des Kompaktlabors gehören unter anderem Zentrifugen, Pipettierautomaten, Kühl- und Heizvorrichtungen sowie verschiedene Messinstrumente. Als besonderen Clou wird das Biolab Telescience-Möglichkeiten bieten: Experimente können vollautomatisiert durchgeführt werden und die verantwortlichen Wissenschaftler können den Versuchablauf über Funk von der Erde aus steuern und verändern.

Beim Berliner Muschelzellen-Experiment müssen im All aber menschliche Hände mit anpacken. Die TU Berlin hat dafür bereits sechs „Astronautenarbeitsstunden“ fest gebucht. Damit später im entscheidenden Moment jeder Handgriff sitzt, müssen die Astronauten die Experimente zuvor an einem zweiten Biolab auf der Erde wieder und wieder durchspielen.

Derzeit passen die Berliner Forscher ihr Experiment so an, dass es sich im Biolab optimal durchführen lässt. „Im kommenden Winter werden wir die Versuchsreihe noch einmal unter Zentrifugalkraft bei der ESA durchführen“, so Peter-Diedrich Hansen. Dann soll das Muschelzellen-Experiment erstmals in die Luft gehen. „Im Frühjahr 2006 ist für Versuche unter kurzzeitiger Schwerelosigkeit die Teilnahme an einem Parabelflug geplant.“

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