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ESA-Generaldirektor Prof. Jan Wörner
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„Space 4.0“ - die Raumfahrt vor einem neuen Zeitalter

16/11/2016 5103 views 34 likes
ESA / Space in Member States / Germany

Prof. Jan Wörner, seit Sommer 2015 Generaldirektor der ESA, erklärt seine Vision von „Space 4.0“: die kommende Ära der Öffnung und Kooperation in der Raumfahrt. Es geht um neues Wissen, aber auch um neues Wachstum und neue, zukunftssichere Jobs. Entscheider in Wirtschaft und Politik bekommen mit Satellitendaten neue Werkzeuge an die Hand und die junge Generation wird mit faszinierenden Weltraummissionen inspiriert.

 

 

 

 

Herr Prof. Wörner, in der Debatte über die zukünftige Wirtschaftsweise der Industrie taucht gerade in Deutschland immer wieder das Schlagwort „Industrie 4.0“ auf. Gemeint ist die Verzahnung der Produktion mittels Informations- und Kommunikationstechnik. Mit intelligenten, digital vernetzten Systemen soll so eine weitgehend selbstorganisierte Produktion ermöglicht werden. Die Vision: Durch den umfassenden Datenaustausch arbeiten Mensch und Maschine viel effektiver zusammen. Die gesamte Wertschöpfungskette soll dabei optimiert und alle Phasen des Lebenszyklus eines Produktes eingeschlossen werden, von der Entwicklung über Fertigung und Nutzung bis hin zur Wartung und dem späteren Recycling.

Wörner: Ja, eng verbunden damit sind die Begriffe Internet of Things oder Smart Factory. Industrie 4.0 wird die Produktion in den entwickelten Ländern künftig mehr und mehr bestimmen. Nach der von Dampfmaschinen geprägten ersten industriellen Revolution im 19 Jahrhundert, der Einführung der Massenproduktion als zweitem und der weltweiten elektronischen Automatisierung als drittem Schritt industrieller Umwälzung, stehen wir nun wirtschaftlich vor einem neuen, vierten Zeitalter. Aber nicht nur die Ökonomie steht vor einem Umbruch...

Eine analoge Entwicklung sehen Sie auch in der Raumfahrt?

Die Internationale Raumstation ISS
Die Internationale Raumstation ISS

Zweifellos, wir nennen es Space 4.0. Nach drei Entwicklungsphasen kommt auch hier etwas grundlegend Neues. Die erste Stufe fand noch rein erdgebunden statt. Das war die Astronomie, die älteste Wissenschaft überhaupt, sie hat mythische Irrtümer über die zentrale Rolle des Menschen im Weltall korrigiert und vor allem in den vergangenen Jahrzehnten das Wissen über den Kosmos explodieren lassen. Mit der technischen Möglichkeit der Raumfahrt im 20. Jahrhundert kam es zum Wettlauf der Supermächte USA und UdSSR, zunächst ins erdnahe All, dann zum Mond. Apollo versus Sojus, angetrieben vom Kalten Krieg, eine stürmische Phase auch in der Raumfahrt – das war die zweite Stufe. Was danach folgte war eine erste Öffnung der Raumfahrt hin zu Anwendungen und Kooperationen wie der Internationalen Raumstation ISS, inklusive Forschung in der Schwerelosigkeit. Das war, das ist Space 3.0. Gleichwohl: Bisher war die Raumfahrt weitgehend geprägt durch nationale, spezifische Interessen, vertreten durch die entsprechenden nationalen Raumfahrtagenturen.

Space 4.0 ist geprägt durch eine verstärkte Öffnung der Raumfahrt?

Der Begriff ist dabei, den amerikanischen Begriff New Space abzulösen, weil er breiter ist. Bei New Space geht es vor allem um die Kommerzialisierung der Raumfahrt. Das beinhaltet Space 4.0 auch, er verharrt aber nicht bei einer Fokussierung auf lediglich die Startraketen wie in den USA. Wir in Europa haben mit unseren Raketen Ariane und Vega eine strategische Setzung, wir wollen einen autonomen europäischen Zugang ins All. Zur Kommerzialisierung: Bei der Telekommunikation ist man damit schon recht weit und kommerziell sehr erfolgreich, dort sind die ESA-Projekte mindestens zu 50 Prozent in Public Private Partnership organisiert. Das mobilisiert die Firmen, ihr gesamtes Knowhow in diese Projekte einzubringen. Wir werden auch die ESA-Erdbeobachtung für PPP-Projekte weiter öffnen. Ein aktuelles Beispiel einer Kooperation mit der Softwarefirma SAP: Umfangreiche Erdbeobachtungsdaten, im Wesentlichen aus dem europäischen Copernicus-Programm, werden über die HANA-Plattform von SAP für Kunden der Sparten Versicherung, Handel, Landwirtschaft oder Verkehr zugänglich gemacht. Auch Start-ups sind dabei, sich mit weiteren, detaillierten Geschäftsideen in diese ESA-SAP-Kooperation einzuklinken – ebenfalls eine Öffnung in den Non-Space-Sektor. Künftig werden auch die Navigationsanwendungen stärker hinzu kommen. Bei der ESA reden wir dann von „integrierten Anwendungen“.  Die Raumfahrt verbindet sich mit all ihren Stakeholdern, das ist natürlich zuerst die Industrie, aber nicht nur.

Sie sind auch auf die Bürger Europas zugegangen...

So könnte eine künftige Mondstation aussehen.
So könnte eine künftige Mondstation aussehen.

Genau. Die Einbindung der Bevölkerung ist die zweite Öffnung. Wir sind in diesem September mit immerhin rund 2000 Bürgerinnen und Bürgern in direkten Dialog getreten. Das war die ESA Citizens‘ Debate, die wir europaweit in 22 Ländern durchgeführt haben. So etwas hat es noch nie gegeben. Wir wollten wissen, welche Erwartungen und welche Hoffnungen die Bürger der ESA- Mitgliedstaaten mit der Raumfahrt verbinden. Es erbrachte interessante und teils auch unerwartete Resultate! Über 80 Prozent unterstützen zum Beispiel die Gewinnung von Ressourcen im All – für mich überraschend. Ähnlich hohe Zustimmungswerte genießt die astronautische Raumfahrt. Die große Unterstützung für Erd- und Umweltbeobachtung aus dem Orbit war schon eher zu erwarten. Solche Informationen und sozioökonomische Trends sollten sowohl für die ESA als auch für ihre Mitgliedsländer von großer Bedeutung sein.

Dritter Aspekt der Öffnung: Bisher waren die technischen Komponenten, die wir für die Raumfahrt gebaut haben, in den allermeisten Fällen spezifisch für die Raumfahrt, in der Regel teure Prototypen, meist eigens gebaut für die jeweiligen Missionen nach den raumfahrttypischen Spezifikationen. Jetzt wollen wir auch stärker die nicht-Raumfahrtebenen einbeziehen, bis hin zu der Frage, was wir von dort übernehmen können. Beispielsweise sind Prozesse der Automobilindustrie auch in der Raumfahrt anwendbar. Gerade in Europa können wir rund um die Raumfahrt herum noch weitere, wertvolle Spin-in und Spin-off-Fälle erzeugen.

Wie fügt sich das Moon Village in Space 4.0 ein?

Es ist ebenfalls ein offenes Konzept, global und ohne Grenzen. Es ist keine fertige Blaupause einer Mondstation. Meine Idee bezieht sich auf den eigentlichen Charakter der Idee eines Dorfs: Menschen arbeiten zusammen am selben Ort, in diesem Fall liegt er auf dem Mond. Im Moon Village wollen wir die Möglichkeiten verschiedener Weltraumnationen zusammenführen – das können robotische Beiträge sein oder Astronauten. Die Teilnehmer an dieser permanenten Mondbasis können in ganz unterschiedlichen Feldern aktiv sein: Wissenschaft und Grundlagenforschung, kommerzielle Aktivitäten wie die Gewinnung von Rohstoffen, oder sogar Tourismus. Das Konzept stößt übrigens weltweit auf viel Interesse.

Sie werden auf der ESA-Ministerratskonferenz in Luzern Anfang Dezember die Finanzmittel für den europäischen Anteil zum Weiterbetrieb der ISS bis 2024 beantragen. Was sagen Sie Skeptikern, die das Geld anderweitig besser ausgegeben sehen?

ESA-Astronaut Alexander Gerst während seines Außenbordeinsatzes auf der ISS.
ESA-Astronaut Alexander Gerst während seines Außenbordeinsatzes auf der ISS.

Wir haben jüngst die sozioökonomischen Wirkungen der Raumfahrt wissenschaftlich untersuchen lassen: Für jeden Euro, den wir hier ausgeben, gibt es einen Returnfaktor, der sechsmal höher liegt. Das ist in den einzelnen Feldern der Raumfahrt natürlich unterschiedlich, klar ist aber, dass auch die ISS eine positive Bilanz hat. Darüber hinaus ist mir wichtig: Raumfahrtprojekte haben auch eine enorme gesellschaftliche Wirkung. Nachrichten heutzutage sind voll von Negativbotschaften: Terrorismus, Klimawandel, ökonomische Probleme. Mit dem Vorstoß ins All, sei es mit Astronauten, Raumsonden, Erdbeobachtung oder Raketenstarts, können junge Menschen in aller Welt inspiriert werden. Denn unsere Botschaft heißt: Es lohnt sich, die Zukunft anzupacken und mitzugestalten!

Herr Wörner, herzlichen Dank für das Interview.

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