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Kosmonaut Fjodor Jurtschichin (Expedition 15) bei der Arbeit mit dem fotospektrometrischen System FSS, das im Rahmen des Uragan-Programms verwendet wird.
Science & Exploration

Das Uragan-Programm dokumentiert Katastrophen auf der Erde von der ISS aus

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An Bord des russischen Segments der ISS wird die Erde im Rahmen des Uragan-Programms in digitalen Bildern erfasst. Naturschätze ebenso wie menschengemachte und Naturkatastrophen werden dokumentiert. Das Uragan-Programm, benannt nach dem russischen Wort für „Hurrikan“, begann, sobald die ISS bewohnbar war, und ist bis heute ein wichtiges Erdbeobachtungsprogramm. Hauptziel ist die Definition von Anforderungen an ein boden- und weltraumgestütztes Katastrophenwarnsystem, das für Hilfseinsätze und zur Schadensbegrenzung genutzt werden soll. Uragan ist die logische Fortsetzung eines Erdbeobachtungsprogramms (also mit anderen Worten eines Crew Earth Observation-Programms), das bereits in den frühen 1970er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion auf den Saljut-Raumstationen begann, auf der Raumstation Mir weitergeführt wurde und das Beobachtungen durch Kosmonauten und Instrumente mit einbezog.

In den vergangenen Jahrzehnten war die Menschheit mit verschiedenen menschengemachten und Naturkatastrophen konfrontiert – einige davon mit großflächigen Zerstörungen. Das Uragan-Programm dient der Untersuchung solcher Katastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Brände, Hurrikans, Pipeline-Unfälle und Flugzeugabstürze. Die dabei gewonnenen Daten werden von Experten unterschiedlicher Fachrichtungen, staatlichen Stellen und Wissenschaftlern zur Modellierung von Katastrophenphänomenen und vielem anderem mehr genutzt. Die ISS ist als Erdbeobachtungsplattform außerordentlich gut geeignet, denn sie bietet die Möglichkeit zum Testen zahlreicher Instrumente, Softwareprogramme und Beobachtungsmethoden, von denen sich einige künftig vielleicht auf unbemannten, robotergestützten Fernerkundungsmissionen einsetzen lassen.

Praxistauglichkeit und Schnelligkeit sind die Grundanforderungen des Uragan-Programms. Anhand der Bilder von der ISS untersuchen staatliche, wissenschaftliche und andere Stellen die Auswirkungen von menschengemachten und Naturkatastrophen. Seit der Einführung von Uragan haben Besatzungsmitglieder der ISS bereits mehrere Katastrophen fotografisch dokumentiert, darunter auch menschengemachte Ölkatastrophen. Bilder des Kaspischen Meeres zum Beispiel zeigen die Folgen der Ölverschmutzung für die Küstenregion. Bei der Analyse der Bilder kristallisierten sich drei besonders stark betroffene Problembereiche heraus: die zu Kasachstan gehörige Nordostküste, die zu Turkmenistan gehörige Südostküste und die Halbinsel Apscheron in Aserbaidschan. An der Nordostküste, auf kasachischem Gebiet, entstanden im Zusammenhang mit den großen Ölvorkommen Wasser-Öl-Seen von wenigen Metern bis zu 12 Kilometern im Durchmesser. Teile dieser Seen sind von Mauern umgeben, die ein Auslaufen des Wasser-Öl-Gemischs und eine Verseuchung der Umwelt verhindern sollen. Aber der Wasserstand im Kaspischen Meer schwankt ständig und starke Winde können die Wellen bis zu 3 m hoch auftürmen. Daher sind Überflutungen im küstennahen Gebiet durchaus wahrscheinlich und es besteht die Gefahr, dass die Mauern ihre Schutzfunktion nicht erfüllen und sich Öl ins Kaspische Meer ergießt.

Ölverschmutzung im Norden des Kaspischen Meeres (basierend auf Daten aus dem Uragan-Programm): 40 Ölfelder – etwa 10 Prozent der Oberfläche - sind von Ölfilmen bedeckt.
Ölverschmutzung im Norden des Kaspischen Meeres (basierend auf Daten aus dem Uragan-Programm): 40 Ölfelder – etwa 10 Prozent der Oberfläche - sind von Ölfilmen bedeckt.

Neben menschengemachten Katastrophen befasst sich das Uragan-Programm auch mit Naturereignissen. Im Jahr 2002 dokumentierte die Besatzung mit ihren Fotos eine Gletscherkatastrophe im Kaukasus und konnte wichtige Informationen dazu bereitstellen. Am 20. September ereignete sich an einem kleinen Gletscher mit dem Namen Kolka in Nordossetien, Russland, unerwartet ein Gletschersturz. Eine gewaltige Eis- und Gerölllawine löste sich, raste ein Tal hinunter, löste weiträumige Zerstörungen aus, kostete viele Menschen das Leben und kam schließlich an einer Höhlung vor einem Felsenkamm zum Stehen.

Gletschersturz des Kolka mit Eis- und Gerölllawine im Kaukasus
Gletschersturz des Kolka mit Eis- und Gerölllawine im Kaukasus

Das Foto eines Kosmonauten vom 13. August 2002, also etwa einen Monat vor dem Unglück, zeigte den nördlichen Teil des Kasbek-Gebirgsmassivs. Der kleine Kolka-Gletscher im oberen Teil des Genaldon-Flusstales war gut zu erkennen. Nach dem Unglück war der Gletscher vollständig von Steinen bedeckt, die seine Oberfläche dunkel erscheinen ließen. Die Fotos der Kosmonauten zeigten auch den oberen Teil des Flusses Genaldon vor und nach der Katastrophe. Der Gletschersturz war ungewöhnlich heftig: Fast der gesamte Gletscher löste sich auf einen Schlag aus seinem Bett und raste zu Tal. Wissenschaftler aus aller Welt konnten das seltene Ereignis beobachten. Fotos der ISS-Besatzung zeigten auch den Zustand nach dem Unglück – einen tiefen, leeren Taleinschnitt, den das Gletschereis vorher ganz ausgefüllt hatte. Die Massenmedien publizierten zahlreiche Spekulationen über die Katastrophe, aber erst die präzisen und genauen Bilder aus dem Weltraum erlaubten eine gründliche Analyse und endgültige Bestimmung der Ursachen. Fachleute aus dem geografischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften entdeckten bei der Untersuchung der Bilder klare Anzeichen für das Einsetzen der Lawinenbewegung. Die Farbe der Eis-Geröll-Mischung sowie Veränderungen in der Gletscherstruktur ließen auf ein Abschmelzen innerer Gletscherschichten schließen. Das dabei entstehende Schmelzwasser fungierte als „Schmierstoff“ für die sich entwickelnde Lawine. Mithilfe durchdachter Überwachungsprogramme hofft man, Katastrophen wie diese künftig besser vorhersagen zu können.

Weitere wichtige Ergebnisse erbrachte das Uragan-Programm bei der Beobachtung von Überschwemmungen, Waldbränden, Gletschergebieten, Reservoirs, Seehäfen, Eisbergen und anderen Phänomenen. Künftig sollen zusätzliche Geräte zur Datenerfassung im Mikrowellen-, Infrarot- und Ultraviolettbereich zum Einsatz kommen. Ebenso sollen mathematische Modelle zur Untersuchung von Katastrophenphänomenen entwickelt werden. Im Rahmen des Uragan-Programms wird die ISS-Besatzung weiterhin Bilder von Katastrophen aufnehmen, deren Analyse letztendlich der ganzen Menschheit zugute kommen soll.

Igor V. Sorokin
S.P. Korolev Rocket and Space Corporation Energia

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