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Start eines der beiden Cluster-Paare von Baikonur
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1. Der unerwartete Glücksfall

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ESA / Space in Member States / Germany

Eng mit dem Namen Cluster verbunden ist Westeuropas größte Weltraumkatastrophe. 1996 ging das Satelliten-Quartett beim Erststart des Schwerlastträgers Ariane 5 in einem Feuerregen auf. Vier Jahre darauf sollten zwei Sojus-Träger die Cluster-II-Satelliten paarweise in den Orbit bringen und damit einer einzigartigen Mission der ESA zum Durchbruch verhelfen.
Dass der erste Doppelstart mit der Sojus-Fregat-Rakete beinahe in einem zweiten Unglück geendet hätte, ist weitestgehend unbekannt. Lüften wir daher nach zehn Jahren das Geheimnis von Baikonur, zumal die Beinahe-Katastrophe für Cluster II zu einem unerwarteten Glücksfall wurde.

Das lange Zittern

Rückblende. Samstag, 15. Juli 2000, Kosmodrom Baikonur in Kasachstan: „Wird es diesmal klappen?" Das war die bange Frage, die über den Köpfen der internationalen Startgemeinde schwebte. Die Bilder der Katastrophe waren allen gegenwärtig. Verständlich, dass an diesem Tag Parallelen gezogen wurden.

Noch am Vormittag des 15. Juli meldete die staatliche Kommission, dass alles im nominellen Bereich sei, auch das Wetter. Der Start des ersten Cluster-Paares sollte um 18.40 Uhr Ortszeit erfolgen. Stunden später wurde der Tag zur Nacht. Über dem Kosmodrom zog eine mächtige schwarze Wolkenwand auf. Was folgte, war ein Jahrhundertunwetter. Die Schleusen standen offen. Es stürmte, blitzte, donnerte um die Wette. Bald lag die Steppe unter Wasser. Die tosenden Urgewalten waren so überzeugend, dass sich die meisten Startteilnehmer mit der neuen Situation – „Das wird heute nichts mehr" – bereits abgefunden hatten. Da donnerte im Gleichklang mit dem Wetter der Generaldirektor des russisch-französischen Starsem-Konsortiums, Wiktor Nikolajew, in die Runde: „Wir starten bei jedem Wetter!" Die fast militärisch vorgetragene Sachaussage ließ kein Nachhaken zu. Deutlich auch der unausgesprochene Unterton: Wagt es nicht, liebe Ausländer, an unserer robusten und zuverlässigen russischen Technik zu zweifeln. Damit wischte der russische Bär erst einmal alle Zweifel vom Tisch. Vorerst.

Doch diese Zweifel waren spätestens 18.41 Uhr wieder da, als die Rakete noch immer friedvoll auf ihrer Rampe stand und die ersten Autos zum Startplatz rasten. Startabbruch. War Cluster mit einem Fluch gesegnet? Was war geschehen? Ein pyrotechnisches Teil hatte versagt, das etwa eine Minute vor dem eigentlichen Start verschiedene mechanische Kontakte zur ersten Stufe auslösen sollte. Es reagierte nicht auf den Stromimpuls. Der Startleiter hingegen reagierte prompt und richtig: Abbruch.
Die Situation war nicht ungefährlich. Nun stand eine vollbetankte Rakete mit den Cluster-Satelliten FM 6 und FM 7 auf der Rampe, die innerhalb von 28 Stunden verschossen werden muss. Die nächste und zugleich einzige Startmöglichkeit bestand am Sonntag, dem 16. Juli, von 18.39 bis 18.45 Uhr Ortszeit. Würde der Start innerhalb des sechsminütigen Fensters nicht gelingen, dann müsste die Rakete enttankt, in alle Einzelteile zerlegt, gesäubert und wieder zusammengebaut werden.

Bilderbuchstart für Salsa und Samba

Die Sojus-Rakete mit Salsa und Samba
Die Sojus-Rakete mit Salsa und Samba

Am 16. Juli bestätigte zunächst der Wettergott das Klischee-Bild kasachischer Steppe im Sommer: Sonne pur, strahlend blauer Himmel, über 25 oC. Die staatliche Kommission gab grünes Licht für einen weiteren Startversuch um 18.39 Uhr Ortszeit. Diesmal klappte alles. Majestätisch hob die 43 Meter hohe Sojus-Fregat ab. Erst sehr langsam, dann immer schneller werdend. Ein schillerndes Farbenspiel tränkte die sonnenüberflutete öde Steppenlandschaft. Der mit zunehmender Höhe kleiner werdende rot-gelb-weißblaue Feuerstrahl der Triebwerke zeichnete sich von dem blauen Abendhimmel kontrastreich ab.

Überall brach helle Freude aus. Man umarmte und beglückwünschte sich. Die jahrelange Arbeit Hunderter von Wissenschaftlern und Ingenieuren aus vielen europäischen Ländern sowie aus den USA ist nun endlich belohnt worden. Ohne ihre Hingabe und ihren Teamgeist wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Und doch wusste jeder: Erst wenn zu beiden Satelliten Kontakt besteht, ist die Startmission erfolgreich beendet. Dieser kam bald. Sowohl russische Stationen als auch das ESOC-Kontrollzentrum in Darmstadt meldeten, dass sich die Fregat-Oberstufe von der 3. Stufe trennte und erfolgreich arbeitete. Nach einer zweiten Zündung setzte die Oberstufe zunächst Samba (FM 7) und kurz darauf Salsa (FM 6) aus.
So heißen nunmehr die Cluster-Akteure. Ein Brite gewann den Namenswettbewerb der ESA. Er schlug für das Quartett die Namen von vier Tänzen vor – Rumba, Salsa, Samba und Tango. Für den ESA-Wissenschaftsdirektor war dies die beste Idee, „weil sie sowohl griffig und einprägsam ist als auch zugleich gut vermittelt, wie die vier Satelliten während ihres Formationsfluges am Himmel tanzen werden."

Startverschiebung brachte ein Jahr Lebensverlängerung

Am 15. Juli 2000 ahnte von den am Startplatz Anwesenden niemand, dass nicht nur in Baikonur ein Jahrhundertunwetter tobte, sondern auch im Weltraum. Ein plötzlicher solarer Strahlungssturm hat viele im Erdorbit arbeitende Satelliten in Mitleidenschaft gezogen. Davon betroffen war auch das ESA-Röntgenobservatorium XMM-Newton. Dessen Sonnenzellen wurden durch die enorme kosmische Strahlung stark degradiert. Wären die beiden Cluster-Satelliten planmäßig am 15. Juli gestartet, wären auch ihre Solarpaddel beschädigt worden. „Wir hätten 7 bis 8 Watt Leistung bereits am ersten Tag verloren“, berichtete Dr. Jürgen Volpp, Spacecraft Operations Manager der Cluster Mission. Triumphierend ergänzte er: „Heute zehren wir davon, denn die Startverschiebung um einen Tag brachte uns eine Missionsverlängerung um ein Jahr!“ Wer zu spät kommt, kann also manchmal auch auf der Gewinnerseite liegen.

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