ESA title
Milan bei Nacht im Jahr 2015
Agency

ESA-Astronaut*innen helfen aus dem All bei der Kartierung der Lichtverschmutzung in Europa

27/10/2022 94 views 1 likes
ESA / Space in Member States / Austria

In brief

Die meisten Europäer leben unter einem lichtverschmutzten Himmel. Die erste Farbkarte von Europa bei Nacht, die mit Bildern von der Internationalen Raumstation erstellt wurde, zeigt einen starken Anstieg der Lichtverschmutzung, und das Ergebnis ist nicht gerade ein schönes Bild für die Umwelt.

In-depth

Die Astronaut*innen auf der Station haben in den letzten zwei Jahrzehnten miterlebt, wie die Städte nachts heller leuchten, weil energieeffizientere und hellere Straßenlampen eingeführt wurden.

Als die ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti während ihrer jüngsten Minerva-Mission aus dem Weltraum auf die Erde blickte, leuchteten die Städte heller als die Sterne. Samantha und andere europäische Astronaut*innen haben seit 2003 über eine Million Bilder der Erde bei Nacht mit Digitalkameras aufgenommen, um das wahre Ausmaß der Lichtverschmutzung zu veranschaulichen.

Ein europäisches Forscherteam verarbeitete die Bilder und verglich sie im Laufe der Zeit. Dabei zeigte sich eine deutliche Zunahme der Lichtverschmutzung in städtischen Gebieten und eine Verschiebung in Richtung weißer und blauer Emissionen. Das liegt an der umfassenden Einführung von Leuchtdiodenlampen, auch LED-Technologie genannt.

„Aus dem Weltraum betrachtet, sieht das Bild aus wie ein Krebsscan oder ein fluoreszierendes Spinnennetz, das immer weiter wächst“, sagt Alejandro Sánchez de Miguel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der britischen Universität Exeter. Ihr jüngster Artikel verdeutlicht, wie invasiv Nachtlichter sind und welche negativen Auswirkungen sie auf die Umwelt haben.

Während Europa die Lichter ausschaltet, um Energie zu sparen, warnen Wissenschaftler*innen, dass es nicht nur darum geht, die Rechnungen zu senken - hellere Nächte stören den Nachtzyklus von Menschen, Tieren und Pflanzen.

Der Beitrag der Astronaut*innen

Die von der Internationalen Raumstation aufgenommenen Farbbilder sind die beste Quelle für Wissenschaftler, um künstliches Licht in der Nacht zu kartieren. Die aktuellen Satellitenbilder sind dafür nicht geeignet, da ihre Farbempfindlichkeit die Emissionen niedriger Wellenlängen nicht in ausreichend guter Qualität zeigt.

„Ohne die von den Astronaut*innen aufgenommenen Bilder würden wir die Auswirkungen der Umstellung zu LED auf die Umwelt nicht erkennen“, erklärt Alejandro. „Astronautenfotos waren und werden immer die Grundlage für nächtliche Erdbeobachtungen sein“, fügt er hinzu.

Farbige Karte von Europa bei Nacht
Farbige Karte von Europa bei Nacht

Die zusammengesetzten nächtlichen Farbkarten, die vor und nach der Verbreitung der LED-Straßenbeleuchtung erstellt wurden, zeigen deutlich mehr Weißtöne im künstlichen Licht.

Die Änderungen variieren von Land zu Land und spiegeln die unterschiedlichen Systeme und Richtlinien für die Straßenbeleuchtung wider. Während die Lichtverschmutzung in Italien und dem Vereinigten Königreich deutlich zugenommen hat, zeigen Länder wie Deutschland und Österreich eine weniger dramatische Veränderung der spektralen Emissionen auf.

Berlin im Jahr 2012
Berlin im Jahr 2012

Mailand war die erste Stadt in Europa, die ihre Straßenbeleuchtung vollständig auf weiße LEDs umgestellt hat. Im Vereinigten Königreich wurde bis Anfang 2019 mehr als die Hälfte der gesamten öffentlichen Straßenbeleuchtung umgestellt.

Deutschland leuchtet immer weißer, und es sind immer noch viele Leuchtstoffröhren und Quecksilberdampflampen in Gebrauch.

„Bis zum Ende dieses Jahrzehnts könnte ganz Europa aus dem Weltraum weiß aussehen“, sagt Alejandro.

Auf der wärmeren Seite des Spektrums leuchtet Belgien dank der weit verbreiteten Nutzung von Natriumdampf-Niederdrucklampen in einem tiefen Orange. Natriumdampf-Hochdrucklampen lassen die Niederlande in einem goldenen Licht erstrahlen.

In einem schlechten Licht

Nach Meinung der Wissenschaftler*innen untergräbt der Übergang zu weißem und blauem Licht die natürlichen nächtlichen Zyklen auf dem gesamten Kontinent.Er stört den zirkadianen Tag-Nacht-Rhythmus lebender Organismen, einschließlich des Menschen, mit negativen Auswirkungen auf die Gesundheit von Tierarten und ganzen Ökosystemen.

Die Studie beschäftigt sich mit drei schweren negativen Auswirkungen: die Unterdrückung von Melatonin, die phototaktische Reaktion von Insekten und Fledermäusen und die Sichtbarkeit der Sterne am Nachthimmel.

„Wenn wir die Straßenlaternen einschalten, entziehen wir unserem Körper das Hormon Melatonin und stören unseren natürlichen Schlafrhythmus“, erklärt Alejandro.

Iberische Halbinsel bei Nacht im Jahr 2022
Iberische Halbinsel bei Nacht im Jahr 2022

Die meisten Insekten und nachtaktiven Tiere sind extrem lichtempfindlich. Nicht nur Nachtfalter, auch fast alle Fledermausarten, die in Europa brüten, leben in Regionen, in denen die spektrale Zusammensetzung der nächtlichen Beleuchtung weißer geworden ist. Wissenschaftler*innen behaupten, dass dies einen direkten Einfluss auf ihre Fähigkeiten zur Bewegung und Reaktion auf eine Lichtquelle hat, auch phototaktische Reaktion genannt.

Die Menschen und andere Tiere nutzen seit langem die Sterne zur Navigation. Die Verschlechterung der Sichtbarkeit der Sterne heutzutage geht über Geolokalisierung und astronomische Beobachtungen hinaus. Die Wissenschaftler sind besorgt, dass die Abwesenheit des Nachthimmels negative Auswirkungen auf das Gefühl der Menschen für die „Natur“ und ihren Platz im Universum haben könnte.

Das Beleuchtungsparadoxon

Obwohl die LED-Beleuchtungsrevolution versprach, den Energieverbrauch zu senken und die Sicht der Menschen bei Nacht zu verbessern - und damit auch das Sicherheitsgefühl -, belegt die Studie, dass die Gesamtemissionen gestiegen sind. Paradoxerweise steigt die Sucht der Gesellschaft nach Licht, je billiger und besser die Beleuchtung ist.

Der Artikel spekuliert über die Existenz eines ‚Rebound-Effekts‘ bei der Außenbeleuchtung, bei dem die Energieeffizienz und die damit verbundene Kostenreduzierung die Nachfrage nach Beleuchtung erhöht und jegliche Effizienzgewinne zunichte macht. 

London Nachtleben
London Nachtleben

Die Nächte in den Städten Europas werden allerdings ein wenig dunkler. Angesichts der drohenden Energiekrise ist die Verschwendung von Licht finanziell noch schmerzhafter. Mehrere europäische Städte schalten die Lichter aus - von Madrid bis Paris und über Berlin sind Hunderte von Denkmälern und öffentlichen Gebäuden nachts nicht mehr beleuchtet.

Diese Initiativen sind Teil der Bemühungen, den Energieverbrauch um 15 % zu senken, entsprechend den Plänen, die die Europäische Kommission letzten Monat vorgestellt hat. Das Ziel verfolgt einen doppelten Zweck: die Förderung einer widerstandsfähigen und autonomeren Wirtschaft vor dem Winter und eine verantwortungsvolle Reduzierung der Kohlenstoffemissionen.